Richard Heckler - Von der Weisheit des Körpers lernen (1984)

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Richard Heckler - Von der Weisheit des Körpers lernen (1984)

Beitragvon Flo » 16.06.2014 13:04

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Aus dem Buch:

Richard Heckler hat geschrieben:
Einleitung

«Mein primärer Wahrnehmungsprozeß ist muskulärer und visueller Natur.»
Albert Einstein

Ich stamme aus einer Tradition der Körperkunst. Meine frühe Erziehung fand auf zahlreichen Spielfeldern, im Turnen, im Basketball und im Judo statt, an den verschiedenen Orten, wo ich aufwuchs. In dieser Umgebung fand ich meinen Lebenssinn und den Respekt der Gleichaltrigen. Als Spieler erfuhr ich Annahme und Kameradschaft und wurde geachtet als jemand, der etwas zu geben hat. Diese Welt bot auch Raum für den Traum, über das Spielfeld hinaus in die große Welt zu wachsen. Nur selten wurde der Traum offen mitgeteilt, doch wenn wir alle beisammen waren, stieg er aus unserem kollektiven Unbewußten auf in Form von Spitznamen, die wir uns gaben, und in unserem Bestreben, den Erfolgreichen nachzueifern. In unseren Spielen lag die Verheißung, etwas Außergewöhnliches zu werden, etwas Besseres zu tun, als bloß Benzin auszuschenken oder in einer Spirituosenhandlung den Umsatz zu steigern.

Später, als ich mehr mit dem organisierten Sport zu tun hatte, lernte ich, mit Teamkollegen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. In dieser Welt des Laufens, Springens, Werfens, Fangens, Schlagens, Riskierens und des Kontaktschaffens lernte ich, was jeder lernt, der eine Körperkunst ausübt: zwischen dem, was jemand zu können vorgibt und dem, was jemand wirklich tut, besteht ein echter, wesentlicher Unterschied. Aufgrund dieser Einsicht wählte ich nur noch Lehrer aus, die fähig waren, das zu verkörpern, was sie sagten. Ich lernte zwischen Leuten, die Dinge wußten und sagen konnten, und solchen, die diese Dinge auch tun und sein konnten, zu unterscheiden. Ich beobachtete, wie sich die Leute bewegten, wie sie ihre Fehler gutmachten und wie sie sich unter Druck verhielten. Ich sah, daß jedermann groß reden konnte und es leicht war, von außerhalb des Spielfeldes Kritik zu üben, daß das aber alles zum hohlen Geschwätz wurde, sobald das Spiel losging. Ich begann bei Leuten, die konzentriert und entspannt bei dem waren, was sie gerade taten, eine bestimmte Art des Präsentseins zu bemerken. Ich erfuhr, daß man sich seine Wirklichkeit erschafft durch Handlungen und richtige Worte und nicht durch Prahlereien. In den Kampfkünsten sagen wir: «Bring es auf die Matte», was soviel heißt wie: «Laß sehen, wie sich deine Philosophie in der Tat bewährt.» Das ist noch heute eines meiner Leitprinzipien, und ich bin dankbar, daß ich es so früh gelernt habe.

Im Sommer vor meinem Eintritt in die High School verletzte ich mir das Knie bei einem Baseballspiel. Nachdem man mir den Gips entfernt hatte, riet man mir zu laufen und Gewichte zu heben, um das Bein wieder zu stärken. Ich pflegte also den Laufsport weiter und gewann ein Sportstipendium. Als erster meiner Familie ging ich aufs College. Bis zu meinem Studienabschluß hatte ich bereits neun Jahre lang an Wettläufen teilgenommen. Ich erfuhr in diesen Jahren unter anderem den Wert von Übung und Disziplin. Die Körperkünste lehrten mich als zweites wichtiges Prinzip, daß Veränderung, Wachstum und Wandel möglich sind, wenn wir üben und uns einsetzen.

Während meiner Collegezeit erlebte ich auch eine tiefe, verwirrende Spaltung in meinem Leben. Ich bewegte mich in zwei getrennten sozialen Kreisen und fühlte mich in keinem von beiden je ganz wohl. Im einen befaßte man sich mit der Welt des Geistes, im andern mit der Welt des Körpers. Die frustrierende Kluft zwischen diesen zwei Welten war einer der Auslöser für die Reise, die mich schließlich bis zu diesem Buch geführt hat.

Als Athlet genoß ich das Gefühl der Lebendigkeit, das mir die Arbeit mit dem Körper schenkte. Meine Erinnerung erzählt von gleißender Sonne auf meinem Rücken, Aufregung vor dem Rennen, vom Geruch von frisch geschnittenem Gras am Feierabend, von den pochenden Atemzügen, die nach einem harten Lauf bis in meine Fußspitzen drangen, von der Befriedigung, wenn ich mich herzhaft durchtrainiert fühlte. Solche Erfahrungen gaben meinem Leben die Würze von Leidenschaft und Lebendigkeit.

Zugleich allerdings bot mir die Atmosphäre des Umkleideraums herzlich wenig Inspiration. Ich genoß die Kameradschaft, und doch fehlte etwas. Ich spürte, daß ich mehr war als bloß ein organisiertes Muskelpaket, das sich auf einen Wettkampf vorbereitete; ich wollte mehr. Einiges davon fand ich in intellektuellen und Künstlerkreisen. Da wurde ich zu einer breiteren Weltsicht angeregt durch Literatur, Poesie und Psychologie. Doch ließ mich diese kopflastige Welt mit ihrer elitären Atmosphäre oft schal und ohne Gefühle stehen. Ich liebte Ideen und Philosophie, doch die endlosen Diskussionen in den verqualmten Räumen schienen mir überhaupt nichts mit dem Verwirklichen von tollen Ideen zu tun zu haben. Diese beiden Gruppierungen waren zwei getrennte Welten, die mir beide etwas gaben. Ich ging also in die Turnhalle, um meinen Körper zu fühlen, und in den Hörsaal, um meinen Geist lebendig zu halten. Die Distanz zwischen Turnhalle und Hörsaal entsprach der Kluft, die zwischen meinem Geist und meinem Körper bestand. Ich war ein Athlet, und ich war ein Poet, doch ich fühlte auch, daß ich darüber hinaus noch etwas mehr war. Und ich spürte deutlich, daß ich diesem Gefühl nachgehen mußte, wenn ich meine beiden Seiten vereinen wollte.

Auf meiner Suche entdeckte ich, daß mir die traditionelle Psychologie und Philosophie mit ihrer trockenen, komplexen Sicht der Dinge wenig zu bieten hatten. Ich erinnerte mich auch, daß ich bis dahin mehr von Leuten und Handlungen gelernt hatte als von Konzepten. Spirituelle Gemeinschaften, zu denen ich mich gesellte, boten Übungen und Strukturen an, um das Leben zu bewältigen, doch waren sie für mein Empfinden zu sehr vom Boden abgelöst und befaßten sich zuwenig mit emotionalen und zwischenmenschlichen Fragen. Viele Körperansätze schienen mir zu mechanisch oder übertrieben wissenschaftlich. In den meisten Sportarten und auch beim Tanz wurde der Körper als Maschine betrachtet, die auf Befehl eine Leistung erbringt und dann wieder vergessen wird. Die Medizin und verschiedene körperorientierte Systeme sahen den Geist lediglich als höherentwickeltes Nervenende. Ich suchte einen Weg, der den Körper einbezog, aber auch anerkannte, daß wir mehr sind als bloßer Körper. Ich wollte mit der Persönlichkeit und dem Geist arbeiten, aber auch den Körper mit seiner reichen Palette an Gefühlen, Empfindungen und Energien einbeziehen.

Auf meiner Suche nach diesem Weg befaßte ich mich mit Aikido und den Kampfkünsten, den Prinzipien der Meditation und der körperzentrierten Psychologie. Ich erkannte dadurch, daß unsere Grundlebensenergie, unsere Erregungskraft, den Boden bietet für die verschiedenen Teile unseres Selbst. Ich erlebte, daß sowohl meine Gefühle wie meine Gedanken aus einem unerschöpflichen Energiestrom kamen und daß ich an ihrer Gestaltung teilhaben, sie zu einem ganzheitlichen und einheitlichen Ausdruck modellieren konnte. Da war Raum für den Dichter, den Schüler, den Athleten und den Spieler. Lichtträger und Schatten wurden aus diesem Strom geboren und entweder unterdrückt oder in ihrem Rhythmus und ihrer Intensität zur Reife gebracht.

Ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, waren die Lehrer, die die verschiedenen Wege verkörperten, Männer und Frauen, die mich durch ihr Handeln inspirierten und mich in ihre Disziplinen einführten. Ich danke ihnen jetzt und in Zukunft für ihre Großherzigkeit und ihre Geduld.

Ich arbeite nicht mit dem Körper, um diesen zu verherrlichen oder einem äußerlichen Schönheitsideal anzupassen. Ich arbeite durch den Körper, um zu entdecken, wer wir sind und wie wir gewisse Lebensqualitäten pflegen können. Über den Körper gewinnen wir Zugang zu unseren vielfältigen Erfahrungen. Das gilt für alle in gleichem Maße: alte Leute, die ihr Bett nicht mehr verlassen können; Gelähmte, die ihre Glieder nicht mehr brauchen können; Krabbelkinder, Berufsathleten, Wirtschaftsbosse und Hausfrauen.

Andere wichtige Gründe, warum ich durch den Körper arbeite:

1. Unsere Kultur ist aus dem Gleichgewicht geraten, das kognitive Lernen wird zu stark betont und der Kontakt zum Körperwissen ist gestört;
2. der Körper öffnet den Zugang zu Menschen und ihren tieferen Bedürfnissen und Potentialen;
3. durch den Körper lernen wir, die Werte und Eigenschaften, die uns am Herzen liegen, auch zu verkörpern;
4. durch das körperliche Erleben kommen wir in Kontakt mit dem Mitgefühl, das in unserer verwirrten Welt so fehlt.

Ich habe keine festen Antworten, und ich bin immer noch dabei, weitere Ideen zu entdecken und andere zu erneuern. Mein Ansatz bietet eine Möglichkeit, mit sich und anderen zu arbeiten und dabei die ganze Person einzubeziehen. Ich muß eingestehen, daß es mir sehr schwer fiel, über etwas grundsätzlich Nichtverbales zu schreiben. Ich habe um jede Seite dieses Buches gekämpft, doch dieser Kampf hat mir geholfen, klarer zu verstehen, was ich tue und was ich für wichtig halte. Meine Hoffnung geht dahin, daß es mir gelungen ist, mit Ihnen, lieber Leser, in der Sprache des Körpers über Körper und Weisheit zu kommunizieren.

Viele Grüße, Bild
Flo
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Re: Richard Heckler - Von der Weisheit des Körpers lernen

Beitragvon merukando » 23.06.2014 14:03

klingt sehr interessant. Ich habe es mir gekauft und führe es mir heute im Sonnenschein zu Gemüte :)

viele Grüße

merukando
Umgib Dich mit dem, was du selbst sein willst, hab höhere Ansprüche an Dich selbst, setze diese Ansprüche um, koche Dein Essen selber und lebe zuckerfrei
merukando
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Beitragvon Flo » 23.06.2014 14:36

Klingt sehr interessant. Ich habe es mir gekauft und
führe es mir heute im Sonnenschein zu Gemüte. :)


Das ist eindeutig ein guter Platz, um es zu lesen. Bild

Viele Grüße,
Flo
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